#gesundekarriere
Stefan Miller (35), Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin im Wiener Gesundheitsverbund
Jeder vierte Mensch leidet im Laufe seines Lebens an einer psychischen Erkrankung – wie Depression, Schizophrenie oder Sucht. Mit ihnen arbeitet der Psychiater Stefan Miller im Wiener Gesundheitsverbund. Mit Begeisterung und einer großen Prise Nachdenklichkeit.
Was fasziniert Sie an Ihrem Beruf?
Die Psychiatrie ist viel mehr als Medizin. Da spielen Themen aus der Rechtswissenschaft oder der Philosophie hinein. Mit welchem Recht nehme ich an, dass jemand psychisch krank ist? Wer weiß sicher, dass die eigene Realität die einzig richtige ist? Wer darf entscheiden, ob jemand psychisch krank ist und damit möglicherweise einen Teil seiner Freiheit verliert? Wie geht die Gesellschaft mit Menschen um, die sich auffällig verhalten? In einer Großstadt wie Wien kommt noch der kulturelle Aspekt dazu. Ein Beispiel: In manchen Ländern ist der Glaube an Geister ganz normal. Wenn jemand dann mit einem solchen „Krankheitsbild“ kommt, denke ich, dass wir es eben nicht unbedingt mit einer Krankheit zu tun haben müssen.
Mit welchen Problemen kommen die Menschen her?
Depressionen, Schizophrenie oder Angsterkrankungen zum Beispiel. Sehr häufig kommen auch Menschen in psychischen Ausnahmensituationen nach schwerwiegenden Lebensereignissen hierher.
Welche Therapien werden angeboten?
Neben der medikamentösen Therapie haben wir ein breites Spektrum an Physio- und Ergotherapie, Psychologinnen und Psychologen bieten Gespräche und Gruppentherapien an. Außerdem ist die Sozialarbeit wichtig. Denn sehr oft gehen psychische Erkrankungen mit sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit, Jobverlust oder Problemen in der Familie einher. Und beides verstärkt sich gegenseitig.
Nehmen wir als Beispiel Schizophrenie: Was passiert da mit einem Menschen und wie kann eine psychiatrische Behandlung helfen?
Gerade bei der Schizophrenie gibt es ganz viele Missverständnisse. Es geht hier nicht um Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Diese Menschen haben eine veränderte Wahrnehmung auf die Welt oder sie haben Halluzinationen. Und für sie ist – in gewissen Momenten – diese Realität gültig und wahr. Sie fühlen sich unter Umständen bedroht, ganz real. Und in dieser Situation verhalten sie sich möglicherweise anderen Menschen gegenüber auffällig – und kommen so zu uns auf die Akut-Psychiatrie. Wir klären biologische Faktoren ab, sprechen über die familiäre Situation und geben Medikamente. Und dann beginnt, wenn nötig, über mehrere Wochen die Therapie. Entweder stationär oder in der Tagesklinik. Oft sind die Auslöser Umweltfaktoren wie Stress oder Drogen, aber manchmal kommt die Erkrankung einfach aus dem Nichts.
Es muss schwierig sein, mit Patientinnen und Patienten zu arbeiten, die sich selbst nicht als krank wahrnehmen.
Ja, das ist es. Aber es gibt auch Menschen, die aktiv zu uns kommen, weil sie erkennen, dass sie Hilfe brauchen. Das ist schon ein großer Schritt. Und dazu kommt: Es gibt immer noch eine große Hemmschwelle bei psychischen Erkrankungen. Das Verständnis fehlt. Reiß dich zusammen – das ist bei Depressionen immer noch ein verbreiteter Rat. Hilft nur nicht.
Bemerken Sie in der Corona-Krise verstärkt psychische Probleme?
Natürlich sind wir alle belastet, einer mehr, einer weniger. Wer aber ohnehin psychisch weniger stabil ist, für den wird es jetzt noch schwerer. Ich kann nur dazu raten: Holen Sie sich rechtzeitig Hilfe. Und wenn es nur eine Corona-Verstimmung ist: Versuchen Sie das Beste aus der Situation zu machen und gönnen Sie sich immer wieder eine kleine Freude und Freiräume. Kochen Sie gemeinsam, gehen Sie spazieren, hören Sie Musik oder machen Sie mit dem Kind ein Puzzle mit tausend Teilen. Wer weiß, wann wieder Zeit dafür ist.