Sexuelle Gesundheit: Was genau bedeutet das und welche Rolle spielt sie?
Interview mit Katja Varga, Sexualmedizinerin in der Klinik Donaustadt
Sexuelle Gesundheit bedeutet laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) das körperliche, emotionale, mentale und soziale Wohlbefinden in Bezug auf Sexualität. Dazu gehört ein positiver und respektvoller Umgang mit Sexualität und sexuellen Beziehungen sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen – frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt – zu machen. Anlässlich des Pride Monats Juni haben wir OÄ Dr. Katja Varga, Allgemeinmedizinerin, Sexualmedizinerin, Sexualtherapeutin und Fort- und Weiterbildungsbeauftragte Ärztin in der Klinik Donaustadt zum Thema Sexualmedizin befragt.
Was verstehen wir unter Sexualmedizin? Was macht ein*e Sexualmediziner*in?
Der Mensch hat ein Recht auf sexuelle Gesundheit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert seit 2000, dass die sexuelle Gesundheit als Teil der Gesamtgesundheit gesehen und angesprochen werden soll (siehe: sozialministerium.at). Dieser Forderung kommen Sexualmediziner*innen nach. Die Sexualmedizin beschäftigt sich mit dem Erhalt und der Förderung sexueller Gesundheit und mit der Therapie sexueller Funktionsstörungen. Sexualmedizin verbindet verschiedene medizinische Fachrichtungen interdisziplinär und integriert auch andere Wissenschaftszweige wie Sexualpädagogik, Psychotherapie bzw. Sexualtherapie, Sozialpsychologie und Ethik mit ein.
Die*Der Sexualmediziner*in informiert die Patienten*innen über Zusammenhänge zwischen Erkrankungen, Operationen, Medikamenteneinnahmen und dem Entstehen sexueller Funktionsstörungen wie, um nur einige zu nennen, erektile Dysfunktion, vorzeitiger Samenerguss, Libidoverlust, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr und viele andere. Die*der Patient hat die Möglichkeit über ihre*seine sexuelle Gesundheit zu sprechen oder sie zu thematisieren und bei Bedarf therapeutisch zu behandeln. Sexuelle Dysfunktionen erscheinen komplex, sind zudem selten monokausal und haben oft mehrerer Ursachen. Es gibt in jedem medizinischen Fachbereich Einflüsse, die sich auf die Sexualität auswirken. So können Medikamente (Hormonersatztherapie, Betablocker, ACE-Hemmer, Antidepressiva, Schmerzmittel etc.) und Operationen (Mammakarzinom, Stomaoperation etc.) die Sexualität beeinträchtigen. Auch Ängste, die bei Erkrankungen wie Herzinfarkt, Asthma und Karzinomen entstehen, beeinflussen das Sexualleben. (Siehe: universimed.com)
Wann und mit welchen Anliegen kommen Menschen zu Sexualmediziner*innen?
Wenn der Leidensdruck bezüglich ihrer Sexualität bereits sehr groß ist. Oder wenn sie spüren, dass sich sexuelle Funktionsstörungen entwickeln oder schon ausgeprägt sind. Das können, wie oben erwähnt, eine erektile Dysfunktion, eine Orgasmus-Störung, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Libidoverlust, eine unerfüllte Neigung, Fetisch etc. sein oder auch die Angst, die*den Partner*in deswegen zu verlieren. Anlass für einen Besuch bei einer*einem Sexualmediziner*in ist ein großer Leidensdruck.
Was passiert bei Sexualtherapien? Was sind Grundlagen dieser?
Wir alle laufen als bio-psycho-soziale Wesen durch die Welt. Dementsprechend müssen wir auch als solche behandelt werden. Und so kann es sexuelle Funktionsstörungen geben, die eine psychisch belastende Ursache haben oder unsere Psyche und/oder unser soziales Leben beeinträchtigen. Über diese Ursachen wird in Sexualtherapien gesprochen. Patient*innen erlernen dabei, die eigene Sexualität zu reflektieren und mit Tabus, Grenzen, Vorurteilen und Sexualmythen umzugehen. Auch unterstützen wir sie dabei, eine neue Art Sexualität zu erlernen: Eine, die erlebt, gefühlt und genossen werden kann trotz einer Sexualfunktionsstörung oder trotz einer ursprünglich anderen Erwartungshaltung an die eigene Sexualität. Das Spektrum der Frage „Was ist Sexualität eigentlich?“ und „Was brauche ich, um eine für mich befriedigende Sexualität zu erleben?“ wird erweitert. Die Sexualtherapie wird oft kombiniert mit Sexualmedizin angewendet.
Was sind besondere Aspekte, die bei Behandlungen berücksichtigt bzw. mitgedacht werden? Hier denken wir auch an sozioökonomische, ethnokulturelle und bildungstechnische Aspekte.
All diese Aspekte fließen in die Behandlung mit ein. Genauso, wie sie dies bei jeder anderen medizinischen Behandlung und bei jeder Patient*innengruppe tun sollten. Da darf Sexualmedizin keine Ausnahme sein. Man versucht doch bei jeder Behandlung den Menschen individuell zu sehen. Gerade ethnokulturell gibt es in sexuellen Belangen deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Dazu gehören andere Traditionen, Riten, Wertevorstellungen oder Mythenkonstrukte, auf die man Rücksicht nehmen muss.
Ein besonderer Aspekt, der in der Sexualmedizin bedacht werden muss, ist das Thema Scham. Es gibt kaum Themen, die noch schambesetzter für Patient*innen sind als die eigene Sexualität. Menschen den sicheren, geschützten Raum zu geben, über Schambesetztes und oft auch Tabuisiertes zu sprechen, erfordert viel Zuwendung und Zeit, um das nötige Vertrauen dafür bilden zu können. Aber wir wissen auch, dass es auch mit weniger Zeit gelingen kann, eine Brücke zu schlagen und mit den Menschen ein für sie erleichterndes Gespräch zu führen. Und damit ist oft schon ein großer therapeutischer Schritt getan!
ALLE Menschen, egal ob Frau*, Mann*, Trans*gender, LGBTIQ- Personen oder andere, werden in der Sexualmedizin berücksichtigt und gehören zu unserem Patient*innengut.
Leider hat die optimale medizinische Versorgung von Trans*gender Personen definitiv Aufholbedarf. Das gilt nicht nur für Österreich, sondern eigentlich weltweit. Hierzu fehlt eine flächendeckende Expertise. Wir hoffen, dass sich das in Zukunft ändern wird und sich mehr Kolleg*innen mit den besonderen medizinischen Bedürfnissen dieser Patient*innengruppe auseinandersetzen werden. Leider hat die Sexualmedizin nach wie vor eine Sonderstellung. Hier wäre es sehr wichtig, dass die Verantwortlichen der Sozialversicherungsträger diese endlich in den Leistungskatalog aufnehmen.
Die Intention aller sollte sein, sexuelle Gesundheit gemäß den Empfehlungen der WHO allen Menschen zu ermöglichen. Denn besser als die WHO kann man es nicht auf den Punkt bringen: „Sexuelle Gesundheit ist untrennbar mit Gesundheit insgesamt – mit Wohlbefinden und Lebensqualität – verbunden.“