Migrationsmedizin bei Kindern
Interview mit Oberarzt Florian Götzinger
Anlässlich des Diversitätsmonats Mai haben wir mit Florian Götzinger zum Thema Migrationsmedizin bei Kindern gesprochen. Er ist Oberarzt an der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde an der Klinik Ottakring und Gastprofessor an der Medizinischen Universität Wien. Seine Spezialgebiete sind Pulmologie, Kinderinfektiologie und Migrationsmedizin.
Seit wann gibt es die Ambulanz?
Die Kinderambulanz für Migrationsmedizin gibt es an der Klink Ottakring seit 2021. Sie ist bisher leider die einzige derartige Ambulanz in Österreich.
Was bedeutet Migrationsmedizin?
Der Begriff „Migrant Health“ ist im englischsprachigen Raum seit langem etabliert und deckt im Großen und Ganzen das ab, was wir in unserer Ambulanz anbieten. Wir bieten eine allgemeinpädiatrische Untersuchung für Kinder an, die aus sprachlichen oder sozialen Gründen bisher keinen regelhaften Zugang zu unserem Gesundheitssystem haben. Wir koordinieren bei Bedarf auch eine Anbindung an eine*n Kinderfachärzt*in oder sonstige Spezialambulanzen und leiten eine Traumatherapie bei Kindern mit Flucht- und/oder Gewalterfahrung ein.
Was waren für dich die Beweggründe zur Gründung dieser Ambulanz?
Mein Spezialgebiet in der Pädiatrie ist neben anderen Infektionskrankheiten die Tuberkulose im Kindesalter. Im Rahmen der Versorgung dieser Kinder hatte ich bereits in der Vergangenheit mit Familien mit rezentem Migrationshintergrund zu tun und damit auch mit oft einhergehenden Problemen wie Fluchterfahrung und einer gewissen und durchaus verständlichen Orientierungslosigkeit im österreichischen Gesundheitssystem. Im Rahmen dessen habe ich immer wieder Kinder gesehen, die seit Monaten oder Jahren, manchmal bereits von Geburt an, in Österreich leben und bei chronischen Erkrankungen keine adäquate Betreuung erhalten. Das betrifft zum Beispiel fehlende Schutzimpfungen, aber auch unerkannte oder nicht behandelte akute und chronisch medizinische Probleme. Der in den letzten Jahren schockierend hohe Anstieg an Keuchhusten-, Masern- aber auch Diphtherie-Fällen, sowie anderer, nicht infektiologischer, medizinischer Probleme ist nur Symptom dieser Mangelversorgung.
Ein sehr anschauliches Beispiel aus unserer Ambulanz ist ein Mädchen im Vorschulalter mit Fluchthintergrund, das seit ihrer Geburt als entwicklungsverzögert galt und weder Deutsch noch die Muttersprache sprechen konnte. Im Rahmen einiger Ambulanzbesuche haben wir herausgefunden, dass das Mädchen eine angeborene Fehlbildung des Innenohrs hatte und deswegen gehörlos war. Es stellte sich heraus, dass die Patientin keinerlei Intelligenzminderung hatte. Bereits wenige Monate nach Erhalt eines Hörgerätes begann das Mädchen zu sprechen, und sie wird jetzt eine normale Schule besuchen können.
Was wird in der Ambulanz angeboten?
Beim ersten Besuch machen wir eine ausführliche Anamnese mit Eltern und Kind in der bevorzugten Sprache mit der Hilfe von Dolmetscher*innen. Wir führen eine körperliche Untersuchung durch und bieten eine Basis-Laboruntersuchung an. Dabei nehmen wir Rücksicht auf die Herkunft oder Fluchtroute der Patient*innen um auf gewisse Infektionserkrankungen oder Erbkrankheiten zu screenen. Bei einem Folgetermin besprechen wir die Befunde, leiten gegebenenfalls Therapien ein und stellen den Kontakt zum niedergelassenen Bereich oder anderen Spezialist*innen her. Im Falle von nicht ausreichendem Impfschutz führen wir bereits bei uns erste Impfungen durch.
Welche Netzwerke und Kooperationen gibt es?
Falls nicht durch Kinderärzt*innen, werden die Kinder unter anderen durch Organisationen wie der Diakonie, Caritas, DonBosco Sozialwerk oder diverse Frauenhäuser bei uns vorgestellt. Wir kooperieren sehr eng mit unserer Abteilung für Gynäkologie, wenn es um jugendliche Mädchen mit Genitalverstümmelung (FGM) geht und mit Organisationen wie Hemayat, wenn es einer kindgerechten Traumatherapie nach Gewalterfahrung bedarf. An dieser Stelle möchte ich mich aber vor allem bei den niedergelassenen Kinderfachärzt*innen mit Kassenvertrag bedanken, die immer wieder Kinder aus unserer Ambulanz zur weiteren Betreuung übernehmen. Eine*n Wahlärzt*in können sich die Familien, die zu uns kommen, in der Regel nicht leisten.
Was sind Herausforderungen in diesem medizinischen Bereich?
Herausfordernd ist vor allem, dass es eine unzureichende Awareness gibt, was die Mangelversorgung dieser Patient*innengruppe betrifft. Hier muss uns als Gesellschaft bewusst sein, wie wichtig es ist in die Gesundheit dieser Kinder zu investieren. Es ist, auch im Hinblick auf die Gesamtpopulation, immer günstiger in Früherkennung oder prophylaktische Maßnahmen wie Schutzimpfungen oder simple Vitamin-D-Gabe zu investieren als später multimorbide Erwachsene langfristig zu therapieren oder es mit Epidemien und deren Folgen zu tun zu haben.
Was sind die Vorteile einer organisierten, medizinischen Betreuung von Migrant*innen oder Asylsuchenden?
Man könnte dadurch gesundheitliche Probleme früh und effizient behandeln, und traumatisierten Kindern die Integration in unsere Gesellschafft und deren Strukturen erleichtern. Sowohl lang- als auch mittelfristig würde das nicht nur Leid ersparen, sondern auch Geld für unser Gesundheitssystem.
Wie schauen die Pläne für die Zukunft aus?
Wir sind derzeit die einzige derartige Ambulanz in ganz Österreich und haben aus personellen Gründen nur einmal wöchentlich Termine, die wir anbieten können. Das ist natürlich nur ein Tropfen auf den „heißen Stein“, da unzählige Kinder unsere Hilfe bräuchten. Eine Etablierung mehrerer solcher Ambulanzen in ganz Österreich und die Vernetzung dieser wäre notwendig um eine bessere Versorgung dieser Kinder zu erreichen. Aktuell versuchen wir die Kolleg*innenschaft und Politik für die derzeit mangelhafte Versorgung vor allem von geflüchteten Kindern zu sensibilisieren. Vereine wie die Politische Kindermedizin oder auch das ÖGKJ Referat für Transkulturelle Pädiatrie leisten hier wichtige Arbeit.
Was fehlt? Was braucht es?
Zu allererst braucht es die Zusammenarbeit der zuständigen Ministerien und schließlich auch der Landessanitätsdirektionen der Bundesländer um ein bundesländerübergreifend einheitliches Konzept für die Betreuung dieser Kinder zu entwickeln. Wenn es in jedem Bundesland zumindest eine Ambulanz gäbe, die sich an mehreren Tagen pro Woche um diese Kinder kümmern könnte, wäre das bereits ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Der öffentliche, extramurale Gesundheitssektor kann die Erstuntersuchung – wie vorher beschrieben – aufgrund des großen zeitlichen Aufwandes sowie der notwendigen apparativen und labtortechnischen Untersuchungen nicht abdecken.
Diese Kinder leben in Österreich und sie erhalten derzeit landesweit keine adäquate Gesundheitsversorgung. Sie kommen meist nur im Notfall und zumeist ungeimpft und ohne Voranamnese in die Notfallambulanzen der Kliniken.
Es ist nicht nur gesundheitspolitisch wichtig sich um die Gesundheitsversorgung geflüchteter Kinder zu kümmern. Darüber hinaus haben wir uns durch das Unterschreiben der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 auch dazu verpflichtet geflüchteten Menschen dieselbe medizinische Betreuung zukommen zu lassen wie der restlichen Bevölkerung.
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