Gerechte Gesundheit: Das Geschlecht darf nicht egal sein
Die Generaldirektorin des Wiener Gesundheitsverbundes im Interview
In der modernen Medizin wurde lange Zeit angenommen, Frauen würden sich wie der – zumeist männliche – Muster-Patient verhalten.
Das hatte zur Folge, dass zu medizinischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern kaum geforscht wurde. Aber: Wo nicht geforscht wird, kann auch kein Wissen generiert werden.
Mittlerweile findet ein Umdenken statt.
Doch wenn es um gerechte Gesundheit und Gesundheitsversorgung für alle Geschlechter geht, sind nicht nur die medizinische Wissenschaft und die Ärzt*innen gefragt.
Der Wiener Gesundheitsverbund ist einer der größten Gesundheitsdienstleister Europas. Mit 70% weiblichen Mitarbeiter*innen, beschränkt sich das Thema nicht nur auf die Patient*innen. Die Generaldirektorin des Wiener Gesundheitsverbundes Mag. Evelyn Kölldorfer-Leitgeb über
Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass Frauen gesundheitliche Nachteile haben, die durch das System verursacht werden?
Da gab es keinen Aha-Moment. Für mich war das ein schrittweiser Prozess. Denn die Problematik ist vielschichtig.
Zum einen sind Frauen benachteiligt durch Defizite in der Forschung. Das hat zur Folge, dass Krankheiten oft viel später diagnostiziert werden. Oder ein Krankheitsbild wird als „psychisch“ abgetan, weil seine Symptomatik noch nicht ausreichend erforscht ist.
Frauen sind aber auch häufiger sozial benachteiligt. Und sozial Benachteiligte haben höhere gesundheitliche Risiken. Etwa, weil schon der Zugang zu Gesundheitsleistungen für sie schwieriger ist. Das kann verschiedenste Gründe haben: Zeit, Sprachbarrieren, soziale und monetäre Hemmnisse.
Wie nutzen Sie dieses Wissen als Generaldirektorin des Wiener Gesundheitsverbundes?
Der Wiener Gesundheitsverbund behandelt alle Menschen. Ganz unabhängig von Alter, Herkunft, Religion, Behinderung – oder eben Geschlecht.
Das darf aber nicht heißen, dass uns das Geschlecht „egal“ ist. Im Gegenteil: Wir müssen es aktiv in alle strategischen Prozesse mit einbeziehen. Da geht es nicht um Stereotypisierungen, sondern um Geschlecht als Faktor. Das klingt fast nach einem Gegensatz, wenn gesellschaftlich Gleichbehandlung gefordert wird. Gleichbehandlung bedeutet im Sinne einer gerechten Medizin, dass gleichermaßen alle Geschlechter berücksichtigt, erforscht und behandelt werden.
Das betrifft genauso den Zugang zur Gesundheitsversorgung: Wenn wir wissen, dass dies für einen Gruppe mit größeren Hürden verbunden ist, müssen wir diese Hürden gezielt reduzieren.
Das habe ich bei meinen Entscheidungen stets vor Augen.
Wie setzen Sie das im Wiener Gesundheitsverbund auf der medizinischen Ebene um?
Wenn wir auf die medizinischen Leistungen blicken, setzen wir natürlich auf Angebote, die speziell für Frauen oder Gruppen von Frauen sind, die benachteiligt sind oder waren.
So gibt es gerade bei Frauen mit chronischen Erkrankungen gibt es noch großen Forschungs- und Beratungsbedarf rund um Medikamenten-Einnahme in der Schwangerschaft.
Auch Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes sind hiervon betroffen. Dafür gibt es in vielen Kliniken des Wiener Gesundheitsverbundes Spezialangebote.
Lange Zeit vernachlässigt wurden Krankheitsbilder wie Endometriose oder auch des Beckenbodens.
Aber all das ersetzt nicht die fachspezifische, geschlechtersensible Forschung, Diagnose und Therapie. Hier war die lange Zeit die Kardiologie Vorreiter. Nun haben sich auch die anderen Fachgebiete auf den Weg gemacht. Gendermedizin ist ein Querschnittsfach. Alle Fachbereiche sind betroffen.
Zur Gesundheitsversorgung zählt aber nicht nur das medizinische Angebot. Frauen machen häufiger Gewalterfahrungen – und das vor allem im häuslichen Umfeld. Es ist wichtig, dass wir auch auf diese Gesundheitsrisiken blicken und ihnen Maßnahmen entgegensetzen. Hier ist die Rolle der Opferschutzgruppen im Wiener Gesundheitsverbund unverzichtbar.
Der Wiener Gesundheitsverbund hat bei seinen Mitarbeiter*innen einen Frauenanteil von 70%. Gibt es auch intern spezifische Förderungsprogramme für Frauen und ihre Gesundheit?
Natürlich. Als Unternehmen müssen wir unsere Gesamtstrategie auch am Profil der Mitarbeiter*innen ableiten. Eine große Rolle spielt hier die betriebliche Gesundheitsförderung.
Wir möchten alle unsere Mitarbeiter*innen in ihrer Gesundheit und Gesundheitskompetenz stärken. Ein besonderes Augenmerk haben wir dabei auf diejenigen Mitarbeiter*innen, die neben beruflichen auch private, soziale Belastungen haben. Das sind nun mal oft Frauen.
Die Betriebliche Gesundheitsförderung macht hier konkrete Angebote. Da ist von der Ergonomie bis zur Stressprävention alles dabei. Unsere Arbeitsmediziner*innen sind natürlich ebenfalls vertraut mit den gesundheitlichen Herausforderungen, die Mitarbeiter*innen im Gesundheitsbereich haben.
Häufig ist hier auch die Stärkung der seelischen Komponente zentral. Unsere Mitarbeiter*innen können anonym und niederschwellig psychologische Beratung in Anspruch nehmen. Dass es solche Strukturen gibt, ist gerade für Belastungssituationen, wie wir sie vor dem Hintergrund der Pandemie erleben, sehr wichtig. Wir dürfen nicht vergessen: Gerade die von Frauen oft unbezahlt verrichtete Arbeit trägt die gesamte Gesellschaft.